Das neueste Album der Kassierer heißt "Habe Brille" nach einem Stück aus einer Operette von Jacques Offenbach und der Titel deutet schon an, wohin die musikalische Reise geht: Es wird ein weiter Bogen geschlagen von der Klassik (hier brilliert Wölfi mit einem a capella Solo über acht Oktaven), Big Band-Einspielungen bis zu düsteren technoiden Maschinenklängen, wobei das Hauptgewicht selbstverständlich auf solidem Punkrock liegt. Die Kassierer überraschen mit ihren virtuos eingespielten Liedern auch verwöhnte Ohren und strafen all die Lügen, die ihnen musikalische Kompetenz absprechen wollen. Was wie ein Streifzug durch die Musikhistorie wirkt, bringt kurz vor der Jahrtausendwende die Vielfalt und Beliebigkeit aller Stile auf den Punkt und liefert nicht mehr und weniger ein Stück Zeitgeschichte. Dabei bleiben die vielen Ohrwürmer sofort im Gedächtnis und laden zum spontanen mitsingen ein. Das große Plus der Band liegt in ihrer konsequenten Konzentration auf die deutsche Sprache, deren Vielfalt sie tiefer ausschöpfen als jede andere Gruppe der Gegenwart. Die Musik der Kassierer läßt den Hörer niemals kalt, sie packt ihn, entwickelt ihre dämonische Kraft und läßt den Hörer als einen anderen zurück. Hier werden Grenzen der Wirklichkeit verzerrt und verschoben, hier wird die realität neu zusammengezimmert. "Habe Brille" bildet die Größe und die Ungeheuerlichkeit der Welt auf musikalische Weise ab. Die Kassierer sind Visionäre und Propheten des dritten Jahrtausends, sie sind Menschen von übermorgen, die mitten unter uns leben.
1. Im Jenseits gibt es kein Bier
2. Amerikanisches Intro
3. Frau Bayersdorf
4. Mein Vater war ein Hurenbock
5. So leb Dein Leben
6. Älterer Herr
7. Ich bin Jesus und kann alles
8. Außerirdischer, wo befindet sich Dein After?
9. Mit ´nem Zeppelin durchs Jenseits
10. Frauenarzt
11. Wenn das Wasser der Ruhr...
12. Deutsche Polizisten
13. Ich töte meinen Nachbarn und verprügel seine Leiche
14. Menschenkatapult
15. Überall blühen Rosen
16. Mach die Titten frei, ich will wichsen
17. Kein Geld für Bier
18. Kommandant Ashtar´s Grußworte
19. Proletentechno
20. Habe Brille
Review: HABE BRILLE LP/CD
Artist: DIE KASSIERER
Ox-Fanzine / Ausgabe #24
Nachdem das sexistische Patientenkollektiv aus Bochum von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften das goldene Achtung! Ironie!-Siegel verliehen bekommen hat, treiben es die KASSIERER umso doller und begeben sich textlich in Abgründe, in denen wirklich kein Tabu unberührt bleibt. Und wenn man glaubt, es ginge nicht mehr peinlicher, dann kann man sich auf die KASSIERER verlassen, die einen Song wie Frauenarzt verfassen. Nennt es infantil, nennt es genial, scheißegal, die KASSIERER kümmern sich einen Dreck drum - Hauptsache, es wird reagiert. Darüber ließe sich natürlich eine Doktorarbeit schreiben, aber damit würden sich die im Alltagsleben eigentlich ganz normalen Leute vermutlich den Arsch abwischen. Musikalisch sind die KASSIERER hier unbestritten in Höchstform: von Swing über Volksmusik bis hin zu ihrem altgewohnten Primitiv-Punk ist alles dabei. Warten wir mal ab, wann die Reichskulturkammer den nächsten Angriff startet - oder kommt vielleicht stattdessen das Angebot, im Ausland im Auftrag der Goethe-Institute aufzuspielen? (Joachim Hiller)
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